Rekommunalisierung Ein Pro und Contra zur Energiewende in Bürgerhand

Bürger wollen die Stromnetze in den Städten zurückkaufen und selbst betreiben. Ist das wirklich eine gute Idee?, fragt Eike Wenzel.

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Von Eike Wenzel. Er gilt als einer der renommiertesten deutschen Trend- und Zukunftsforscher und hat sich als erster deutscher Wissenschaftler mit den LOHAS (Lifestyle of Health and Sustainability) beschäftigt. Dies ist der zweite Teil seiner Kolumne über den Trend zur dezentralen Energieversorgung und Energieerzeugung in Bürgerhand. Den ersten Teil finden Sie hier.

Die Rekommunalisierung von Energie elektrisiert seit Jahren die deutsche Kommunalpolitik. Den Energie-Multis und -Monopolen die Macht aus den Händen zu reißen, das bringt den grünalternativen Rebellen und den wertebewussten CDU-Stadtrat an einen Tisch.

Unser Latte-Macchiato-Lebensstil, gesund genießen, die Reregionalisierung unserer Freizeit- und Konsumwünsche und das Bedürfnis nach kommunaler Partizipation (im Kindergarten, im Sportverein, weniger im Gemeinderat) sehnt sich nach sauberer Energie von daheim. Von 2013 bis 2016 entscheiden in Deutschland etwa 1.300 Kommunen über die Zukunft ihrer Energienetze.

Darunter nach Hamburg auch Großstädte wie Bonn, Stuttgart und Düsseldorf. Die FAZ hat die Bedeutung und gesellschaftliche Hitzigkeit der Debatte erkannt: „Es geht um viel Geld, den Einfluss der Energiekonzerne, das Gelingen der Energiewende und natürlich auch weltanschaulich gefärbte Standpunkte.“

Bürger könnten sich verhebenSeit 2007 sind den bundesdeutschen Kommunen für den eigenständigen Netzbetrieb rund 170 Konzessionen erteilt worden, die Quote der „Rekommunalisierung“ liegt jedoch gerade erst bei bei fünf Prozent. Das Dilemma: die Sehnsucht nach Autarkie vor Ort ist riesig, doch die Prozesse zur Umsetzung sind höchst kompliziert. Im Grunde macht nur der kluge Querverbund von Wärme-, Wasser- und Stromnetz eine Wiederaneignung wirtschaftlich.

Die Gefahr: Wer beispielsweise das heimische Stromnetz zurückkauft, könnte sich schnell verheben, wenn ihm die Wartungskosten über den Kopf wachsen. Nicht zufällig veranschlagt die EnBW 26 Prozent der Einnahmen aus dem Stromgeschäft für die Netzpflege. Für Kommunen unter 30.000 Einwohnern, so kalkulieren Experten, ist eine Rekommunalisierung schlicht unrentabel – momentan, auf Basis der aktuell angespannten Energiepreise.

Ist der Trend zum eigenen Netz also wirklich eine gute Idee? Ein Pro und Contra in sieben Thesen:

1. Die Gefahr einer digital-postfossilen Einsiedelei besteht nichtMacht Dezentralisierung nicht tendenziell asozial? Ist es nicht ein böser Irrtum zu glauben, wir könnten irgendwann selbstgenügsam in einem postdigitalen Mikrokosmos leben, bei dem sich Auto und Hausheizung aus der selben Wasserstoffenergiequelle bedienen, wir in Energieüberschüsse produzierenden Aktivhäusern leben, im Internet einkaufen, vielleicht noch von unserem selbstfahrenden Google-Auto zur Arbeit gebracht werden und uns ansonsten auf uns selbst und unsere Familie zurückziehen können?

Konzepte dafür gibt es zuhauf. Dass die Mehrheit von uns eine solche Autonomie nicht möchte, weil sie eher isoliert als Eigentätigkeit stärkt, ist auch klar. Doch es muss nicht zu keiner solchen digital-postfossilen Einsiedelei kommen. Feststeht: Dezentralisierung fördert Eigeninitiative, Gemeinsinn und verantwortungsbewussten Konsum.

2. Afrika macht es vor: Dezentralisierung fördert DemokratieAuf dem erwachenden afrikanischen Kontinent ist Dezentralisierung (nicht nur auf dem Energiesektor) ein unbezweifelbarer Modernitätstreiber: Demokratie durch Dezentralisierung wird hier gelebt. In dem Film „Die 4. Revolution – Energy Autonomy“ (2010) von Carl-A. Fechner werden mit gehörigem Pathos diverse Projekte dazu vorgestellt.

Ein Beispiel: Die Ölfrucht Jatropha, bisher entweder für den Eigenkonsum oder den Export genutzt, wird seit einiger Zeit in einer Kooperative von 300 Kleinbauern weiter verarbeitet. Die Früchte werden gepresst, das Öl treibt drei Generatoren an und versorgt 400 Familien mit Strom. Aus der Transformation vor Ort erwächst gewissermaßen ein Geschäftsmodell: Mit Strom und Licht können die Menschen auch nachts arbeiten.

3. Deutschland und Afrika: ein Ziel - grundverschiedene MotiveIn Afrika ist Dezentralisierung ein erster Schritt aus unsäglicher Not - bei uns ist sie mittlerweile ein populäres Lebensstil-Statement. Klar, Energieautarkie ist hip, ist Lifestyle. Wir lieben es, uns um unseren eigenen Kram zu kümmern, wir wollen mehr Eigenzeit, Eigenverantwortung, Individualisierung des Lebensentwurfs. Wer gerne an Lebensstilbedürfnissen der Menschen vorbei seine Geschäfte machen möchte, wird in der Zukunft mit leeren Händen dastehen.

Das Zeitalter der „Regie-geführten Märkte“ (Chris Anderson) ist definitiv zu Ende. Grabenkämpfe sind überflüssig: Wir brauchen sowohl die Energiewende von unten als auch den ordnungspolitischen Ansatz von oben. Ohne die Politik degeneriert die Energiewende zur Wochenendbastelei. Und ohne die Menschen vor Ort könnte sie leicht zu einem halbherzigen Reformprojekt für Ex-Monopolisten verkommen.

4. Dezentralisierung könnte neue Geschäftsmodelle kreierenNicht importieren, sondern dezentral erzeugen und damit die lokale Wertschöpfung unterstützen – natürlich ist das in Zeiten allgegenwärtiger Nachhaltigkeitsappelle ein unschlagbares Argument. Während bei der Bundestagswahl all diejenigen abgestraft wurden, die nicht die gesellschaftliche Mitte stürmten, beschreibt Dezentralisierung und Energieautarkie einen neuen Sehnsuchtshorizont der bundesdeutschen Mittelschicht.

Auf dieser Basis lassen sich problemlos neue politische Programme und Marketingpläne schreiben. Und auch wenn mit dem Label „Regional“ heftigst Schindluder getrieben wird, jeder dritte Bundesbürger möchte künftig noch häufiger regionale Produkte nutzen. Das heißt: Auf der Basis der Autarkie- und Regionalisierungssehnsüchte lassen sich neue Geschäftsmodelle aufbauen, die den Kunden nicht mehr als „Endverbraucher“ und apathischen Konsumenten betrachten.

5. Zukunft besteht nicht nur aus disruptiven RevolutionenEnergieautarkie, wenn wir es wirklich ernst damit meinen, braucht den großen Wurf: nicht nur Hausenergie, sondern auch der eigene Mobilitätsentwurf muss damit auf den Prüfstand gestellt werden. Stimmige Konzepte müssen die Nutzung von Auto, ÖPNV, Flugzeug und Bahn mitberücksichtigen, werden aber vor 2020 definitiv nicht den Massenmarkt erreichen.

Realistisch ist ein moderater Wechsel von zentralisierten Erzeugungsstrukturen hin zu einer sich stärker auf regenerative Prozesse stützenden Energieerzeugung, die dann auch dezentral organisiert ist. Es kommt jetzt darauf an, Modelle für diesen Übergang zu entwickeln. Dafür sollten idealerweise neue Anbieter auftreten. Aber auch die großen Vier (RWE, Eon, EnBW und Vattenfall) arbeiten an solchen Systemen.

6. Lassen wir uns nicht vom herrschenden Energie-Diskurs dominierenKeine Frage, bei den meisten Energieautarkiekonzepten, die wir bislang kennen, bleibt beispielsweise der Primärenergiebedarf unberücksichtigt, der für die Herstellung und den Transport der Baumaterialien („graue Energie“) verwendet wird. Tatsächlich übersteigt bei vielen Niedrigenergiehäusern die nötige Herstellungsenergie zuweilen den Verbrauch an Betriebsenergie.

Das liegt natürlich aber auch daran, dass wir momentan tatsächlich noch von Prototypen sprechen. Kostensenkungsperspektiven werden sich – wie überall - zwangsläufig ergeben, wenn die Technologie marktfähig wird. Passivhäuser sind bei ihrer Erstellung heute rund sechs Prozent teurer als konventionelle neue Gebäude, diese Mehrkosten lassen sich über die Stromrechnung schnell kompensieren.

7. Macht kaputt, was Euch kaputt macht? Nein, wir brauchen neue EnergieunternehmenWir werden auch noch in 50 Jahren den länderübergreifenden Energiehandel haben. Das ist auch gut so, denn eine seriöse Energiewende schaffen wir ohnehin nur in europäischen und internationalen Vernetzungskontexten. Freunde der Energieautarkiebewegung sollten es sich auch verkneifen von den „vier Besatzungsmächten“ RWE, Eon, Vattenfall, EnBW zu sprechen. Deutschtümelei hilft nicht beim der Konstruktion der Energiezukunft.

Und dass wir damit „Scheichs nicht länger Geld für Erdöl und den Russen für Erdgas“ hinterher werfen, ist ein eher marginaler Aspekt. Für die nächsten 20 Jahre scheint das Szenario jedoch klar: Energieautarkie produziert wirtschaftlich und gesellschaftlich wertvolle Effekte. Sie unterstützt zweifellos auch die Nutzung von Erneuerbaren Energien.

Energieautarkie ist jedoch kein flächendeckendes Lösungsmodell, schon gar nicht für ein großes Land wie Deutschland. Politik und Gesellschaft sollten unterstützen, dass regionale und lokale Player stärker zu Akteuren der Energiewende werden – auch dafür ist Dezentralisierung eine gute Plattform. Einem Leben am Netz entkommen wir dadurch jedoch definitiv nicht. Neben der Dezentralisierung mit ihrem offenbar unwiderstehlichen Sexappeal in der Nachhaltigkeitsrepublik Deutschland sollte wir noch an etwas anderes denken: Statt von Besatzungsmächten zu reden, sollten wir zeitgemäße Unternehmenskonzepte für die unverzichtbaren Energieversorger einfordern.

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