Energieautarkie Sollten wir alle zu Stromerzeugern werden?

Viele Experten glauben: Energieautarkie und dezentrale Stromversorgung sind die Rettung für die Energiewende. Aber stimmt das auch? Von Eike Wenzel

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Von Eike Wenzel. Er gilt als einer der renommiertesten deutschen Trend- und Zukunftsforscher und hat sich als erster deutscher Wissenschaftler mit den LOHAS (Lifestyle of Health and Sustainability) beschäftigt. Dies ist der erste Teil seiner Kolumne über den Trend zur dezentralen Energieversorgung und was er über unsere Gesellschaft verrät.

Ein Gespenst geht um in Deutschland. Wir wollen uns befreien, befreien von der quälenden Stromrechnung und den horrenden Heizkosten. Dezentralisierung und Energieautarkie lautet die Parole. Keine Macht den Energiemonopolen! Dezentralisierung und Energieautarkie gehören mittlerweile zu den Erlöservokabeln, die auf keiner Energiekonferenz fehlen dürfen. Energieautarkie hat in einem rohstoffarmen Land wie Deutschland offenbar Starpotenzial.

Aber klappt das wirklich? Gehen wir irgendwann alle vom Netz, werden wir zu Energie-Individualisten und Strom-Autonomen? Gibt es tatsächlich einen Weg, unser Energiesystem von unten auf den Kopf zu stellen?

Die Sehnsucht ist groß, Energieautarkie herzustellen und den RWEs, Eons, Vattenfalls und EnBWs nicht mehr die Boni zu vergolden. Eine Energie-Guerilla, deren Umsturz im eigenen Keller mit dem Mini-Kraftwerk und dem Holzschnitzelbrenner beginnt, scheint sich zu formieren.

Dabei sind es nicht mehr nur die Berufsrevoluzzer und Fundamental-Ökos, die diesen Traum träumen. Es ist die energiebewusste Mittelschicht, der nachhaltige Jedermann, dem es nach dezentralem Energiemanagement dürstet.

Die Eigenversorger-Bewegung im Stromsektor ist nicht nur Lifestyle und Anti-Konsum-Attitüde. Aber nergieautarkie und Dezentralisierung haben  sehr wohl mit neuer Sozialromantik zu tun. Allerdings sollten wir das nicht voreilig belächeln. Möglicherweise steckt darin eine Lösung für unsere Energiewende, die uns immer mehr zwischen den Finger zerbröselt.

Dezentralisierung befreit uns aus der ölabhängigen Massenkultur des 20. JahrhundertsDie Idee der Dezentralisierung ist ebenso simpel wie verlockend: Der einzelne gewinnt mehr Raum- und Zeitsouveränität, indem er sich in einem dezentralen Versorgungsnetzwerk orientiert. Dezentralität heißt dann auf der privat-persönlichen Ebene: mehr Eigenständigkeit, mehr Lebensqualität. Internet und iPhone haben uns in den vergangenen zehn Jahren gezeigt, welche Macht dezentraler Konsum bekommen kann (Stichworte e-Commerce, Social Media, e-Learning, Krankenpflege @home, P2P-Carsharing). Jetzt könnte auch der milliardenschwere Energiesektor an der Reihe sein.

Jeremy Rifkin, der Wasserstoffpapst, macht von der Dezentralisierung unserer Lebenswelt und Marktrealität gar das Überleben der Menschheit abhängig - was für sich ein ziemlich zentralistischer, wenn nicht totalitärer Gedanke ist. Im 20. Jahrhundert elektrifizierten sich unsere Medien (Kino, Radio, TV) und wir stießen auf den Rohstoff Öl – das Ergebnis waren Autos, Massenkonsum und zentralisierte Märkte.

Im 21. Jahrhundert revolutioniert das Internet die Kommunikation und, so Rifkins - bislang - vergebliche Hoffnung, mithilfe von Wasserstoff, Bürgerwindmühlen und Mikrokraftwerken treten wir ein in das Zeitalter des dezentralen (Energie-)Konsums, der Kollaboration und des Allmende-Prinzips 2.0.

So schreibt Rifkin in seinem Buch "Die dritte industrielle Revolution": „Die konventionelle Von-oben-nach-unten-Organisation der Gesellschaft, die einen Großteil des wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Lebens der auf fossilen Brennstoffen basierenden industriellen Revolution charakterisierte, wird in der heraufkommenden Ära grüner Industrie dezentralen und kollaborativen Beziehungen weichen.

Aber wo findet Energieautarkie bereits statt? Hier zum Beispiel: Die Nordseeinsel Pellworm, im Genossenschaftsdorf Jühnde in Niedersachsen, Wildpoldsried, Feldheim in Brandenburg. Deutschlands erstes energieautarkes Haus, das so genannte „Freiburger Solarhaus“, wurde bereits 1992 in Betrieb genommen.

Hinzu kommt Totnes im Südwesten Englands (kürzlich in einem ARTE-Film abgefeiert - die Medien umschwirren die Energieautarkieprojekte wie die Motten das Licht), das die Handelsketten aus dem Dorfzentrum rausgeschmissen, eine eigene Währung eingeführt hat und sich über neu sprießenden Gemeinsinn freut, der vor allem an der bürgeraktiven Gestaltung der Energiewende entstanden ist.

Es gibt unzählige weitere Beispiele, wie die Transition Towns, die Stockholmer Resilienz-Forschung, die Verfechter der Postwachstumsökonomie und viele andere mehr.

Stromrebellen: Spitzenwirtschaft und Sandalenträger arbeiten am gleichen BefreiungsszenarioDie Partisanen und verschmitzten Querköpfe, die die Idee von der entzentralisierten Energiewelt in Deutschland an den Start gebracht haben, sind die "Schönauer Stromrebellen". Die Stromrebellen sind ein Energieversorgungsunternehmen mit Sitz in Schönau im Schwarzwald.

Das Unternehmen, das aus der Anti-AKW-Bewegung hervorgegangen ist, betreibt das örtliche Stromnetz und vertreibt mittlerweile in ganz Deutschland Ökostrom, wobei es für eine klimafreundliche und atomstromlose Energieversorgung eintritt. Das sind also die, vor denen uns unsere Eltern immer gewarnt haben: Rechthaber, Latzhosenträger und Zottelbärte.

Zum Zeitpunkt der Liberalisierung des Stromhandels, im Jahr 1999, begannen die Stromrebellen, bundesweit Ökostrom anzubieten. Ihr damaliger Kundenstamm bestand aus den 1.700 Haushalten im eigenen Schönauer Netzgebiet, heute sind es mehr als 130.000 Kunden. Das Ergebnis der Ökos und Weltverbesserer aus der Provinz: 100 Millionen Euro Umsatz im Jahr 2012. Energieautarkie als Geschäftsmodell, das durch die Decke geht.

Der Strom der Elektrizitätswerke Schönau stammt aus Wasserkraft und Kraft-Wärme-Kopplung. Es gibt keinerlei Kapitalbeteiligung von Atomkraftwerksbetreibern oder deren Tochterunternehmen, der TÜV Nord zertifiziert das Projekt jährlich.

Die anderen Energiefreibeuter, die nicht nur mit revolutionärem Wortgeklingel auftreten, sondern es einfach tun, das sind ausgerechnet Deutschlands Großunternehmen. BMW möchte zu 100 Prozent energieautonom werden, und bei VW wird die Hälfte der Energie für die rund 100 Produktionsstandorte aus eigenen Anlagen gezogen, wie jüngst zu lesen war.

Der Realitätstest: Wo funktioniert (energie-)befreites Wohnen?Es gibt also erste Beispiele für die Energieautarkie. Mittlerweile befinden wir uns also in der Phase des humorlosen Realitätstests. Man kann sich aber fragen: Funktioniert eine dezentralisierte Energiewelt tatsächlich oder sollten wir es lassen?

In den USA hat ausnahmslos jeder Präsident seit den 1930er-Jahren (und ungezählte Präsidentschaftskandidaten) dem Volk die alsbaldige Unabhängigkeit von teurem Öl in Aussicht gestellt. Energieautarkie ist in den USA durch das gesamte 20. Jahrhundert hindurch quasi zu einem Sekundärmythos zur Autogesellschaft herangereift. Durch das Erdgaswunder stehen jetzt die Chancen nicht schlecht, ab 2020 tatsächlich zum Energieexporteur zu werden.

Aber wie sieht es hierzulande aus? Ist Dezentralisierung wirklich erstrebenswert? Sollte Dezentralisierung tatsächlich die oberste Maxime unseres Handels in den preisgetriebenen Gemetzeln um die Energiewende sein?

Ein Beispiel: In Lehrte sieht die „Ziegelstein gewordene Unabhängigkeitserklärung“ vor, dass ein energieautarkes Haus 363.000 Euro kostet. Dazu kommen allerdings noch erhebliche Grundstückskosten, da das energieautarke Haus nicht zu klein sein darf. Ein solches Unabhängigkeitshaus der Firma Helma Massivhaus speichert den überschüssigen Strom in Blei-Akku-Batterien und speist damit das häusliche Stromnetz, wenn es dunkel wird. Solarstrom liefert zusätzliches erwärmtes Wasser aus einem gigantischen 9.300 Liter-Tank, damit Spül- und Waschmaschine (die großen Energiefresser) effizienter arbeiten.

42 Zentimeter dicke massive Mauern aus einem Hightech-Ziegelstein sorgen für nachhaltiges Wohnen. Das Dach muss mit 45 Grad ziemlich steil sein, damit auch die niedrig einfallende Wintersonne in Eigenenergie verwandelt werden kann. Mit 363.000 Euro (inklusive Tank, Batterie und Solaranlagen) ist das Unabhängigkeitshaus teurer als ein gewöhnliches Massivhaus, dafür entfallen Nebenkosten komplett.

Erstes Fazit: Energieautarkie stößt schnell an Grenzen

Nehmen wir uns ein zweites Beispiel vor: Die Kraft-Wärme-Kopplung. Sie verwertet so genannte Nutzwärme, die bei der Stromerzeugung aus Brennstoffen entsteht. Das Verfahren wurde lange Zeit nur als zentralisierte Energieversorgung für öffentliche Gebäude und in der Industrieproduktion genutzt. Kleine Blockheizkraftwerke könnten in den nächsten Jahren jedoch auch den Wunsch von Energieautarkie wahr werden lassen.

Während in Großkraftwerken die bei der Stromerzeugung entstehende Wärme über Kühltürme ungenutzt in die Atmosphäre entweicht, wird sie in Mini-Blockheizkraftwerken im Keller des Hauses veredelt. Die Wärme entsteht am Motor, der einen Stromgenerator antreibt. Die Motor- und Abgaswärme erhitzt Wasser, das für Heizung und Dusche genutzt wird.

Ein Wärmespeicher sorgt dafür, dass der Motor bei niedrigem Wärmebedarf nicht ständig anspringen muss. Der vom Generator erzeugte Strom deckt nicht nur einen Teil des eigenen Strombedarfs. Anfallende Überschüsse werden ins öffentliche Stromnetz eingespeist. Für Einfamilienhäuser sind die Anlagen mit 12.000 bis 16.000 Euro besonders teuer, weil diese Nano-Blockheizkraftwerke erst seit vergangenem Jahr auf dem Markt sind. Allerdings sind in den kommenden zwei Jahren Preisrückgänge von rund 30 Prozent zu erwarten.

Autarkie ist ersteinmal teuerAuf dem aktuellen Stand der Technik (der immer nur ein Gegenwarts- und Vergangenheitsblick ist) sieht es demnach so aus: Für moderne Einfamilienhäuser lohnt sich ein Blockheizkraftwerk in der Regel nicht. Hauseigentümer könnten sich aber mit ihren Nachbarn zusammenschließen und eine Anlage zusammen betreiben.

Allerdings scheitert dies oft daran, dass sich viele ungern von ihren Nachbarn abhängig machen wollen. Aber: Wer jedoch alte Bausubstanz aufpeppeln möchte, für den ist Kraft-Wärme-Kopplung die richtige Wahl. Gerade bei denkmalgeschützten Häusern, bei denen Dämmmaßnahmen oft nicht möglich sind, sind die Mikro-Kraftwerke (auf Erdgasbasis) sogar der beste Weg, Heiz- und Stromkosten zu senken.

Zweites Fazit: Manchmal funktioniert Energieautarkie doch

Wie eine aktuelle Studie des Bundesumweltamtes zeigt, ist Energieautarkie beziehungsweise die dezentrale Stromversorgung eine Vision, die in unserer verfahrenen Diskussion über die Erneuerbaren Energien unbedingt wahrnehmbar gehalten werden muss. Sie ist aber kein schlüsselfertiges Konzept, das mit hundertprozentiger Eintrittswahrscheinlichkeit daherkommt, und schon gar standardisiert in jeder beliebigen Kommune oder Region installiert werden kann.

Visionen dürfen wir uns nicht entziehen - auch wenn ein Ex-Bundeskanzler angeblich einmal Anderslautendes bezüglich Visionen gesagt haben soll. Mehr noch, wir müssen kühnes Nachvornedenken in der Welt des Großparteienkonsenses wieder stärker kultivieren, sonst verpassen wir große Chancen.

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