Degrowth für Dummies Das sind die zehn zentralen Ideen der Bewegung

Immer weiter, immer schneller, immer mehr: Damit muss nach Meinung von Wachstumskritikern Schluss sein.

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Ressourcenmangel, Umweltverschmutzung, Armut, grassierende Krankheiten. Wie diesen Megaproblemen im 21. Jahrhundert genau beizukommen ist, darüber streiten sich die Experten. Der grundsätzliche politische Konsens ist aber: Wohlstand und Wirtschaftswachstum schaffen künftig die Möglichkeiten, Technologien und Mittel, um diesen Problemen beizukommen.

Von diesem Konsens hielten die mehr als 3000 Wissenschaftler, Studierende, Künstler und Aktivisten, die sich am vergangenen Wochenende in Leipzig trafen, herzlich wenig. Statt immer mehr, forderten sie auf der bisher wohl größten Degrowth-Konferenz in Deutschland, ein immer weniger und eine Abkehr vom Dogma, dass nur Wirtschaftswachstum allein glücklich macht. Die durch Hunger nach Wohlstand und Fortschritt, sowie durch eine wachsende Weltbevölkerung ausgelösten, ökologischen Krisen könnten nur durch ein Schrumpfen der Wirtschaft gelöst werden, glauben sie.

Eine absichtlich schrumpfende Wirtschaft – das ist für viele etablierte Ökonomen, Politiker und Experten noch schlimmer als Kommunismus.

Aber auch die Medien sind sich bisher nicht ganz einig, wie sie die Degrowth-Bewegung, wie sich selbst nennt, einordnen soll. Die Süddeutsche Zeitung wittert „quasirassistischen Heimatschutz“ in dem Degrowth-Musterland Bhutan, welches ihr „Bruttonationalglück“ dem Bruttoinlandsprodukt vorzieht, aber die hinduistische Minderheit diskriminiert.

Die der Kapitalismusverherrlichung unverdächtige Taz wirft dem bekannten Degrowth-Vertreter und Ökonomen Niko Paech vor, dass eine Ideen unzozial seien. Denn wo sollen tausende VW-Angestellte ihr Brot verdienen, wenn es keine Fabriken mehr gibt? Andererseits werden die Wachstumsverweigerer als neue Avantgarde des Weniger-ist-Mehr in den Medien gefeiert.

Doch was will die Degrowth-Bewegung eigentlich konkret? Hier eine Liste von 10 zentralen Forderungen:

1. Flugzeugreisen, Energie- und Ressourcenverbrauch stärker besteuern. Versteckte soziale und ökologische Kosten sollen in die Preise für Produkte einfließen.

2. Die lokale Wirtschaft steuerlich und rechtlich fördern, um kurze Transportwege, gestärkte ländliche Gebiete und mehr Transparenz in der Produktion zu schaffen.

3. Privatisierung von öffentlichen Gütern stoppen. Gemeingüter oder Commons sind vielen Degrowth-Anhängern besonders wichtig. Sie sollen nicht privatisiert werden. Von der Wasser- über die Energieversorgung, bis hin zu Wohnraum sollen diese der Allgemeinheit bezahlbar zur Verfügung stehen, ihre Verwaltung übernimmt die Öffentlichkeit.

4. In öffentliche Infrastruktur investieren. Anstatt Unmengen Geld in öffentliche Prestigeobjekte oder den Straßenbau zu stecken, sollte der Staat den öffentlichen Nahverkehr und die Radinfrastruktur fördern. Das würde Städte auch lebenswerter machen.

5. Neustrukturierung der Infrastruktur. Anstatt immer wieder neue Umgehungsstraßen und Straßenringsysteme zu bauen, die Anreize schaffen, das Auto zu benutzen, muss die bestehende Infrastruktur besser genutzt werden.

6. Beseitigung umweltunfreundlicher Steuererleichterungen, wie die für Firmenwagen und die Pendlerpauschale. Sie setzen laut den Degrowth-Vetretern falsche Anreize und schaffen eine nicht notwendige Nachfrage nach Produkten.

7. Standards, Siegel und Indikatoren reformieren. Vor allem das Bruttoinlandsprodukt wird als unvollständig und zu limitiert kritisiert, um Fortschritt zu beschreiben.

8. Reformierung des Bildungssystems. Das Bildungssystem soll über Umweltproblematiken aufklären und mit Schulgärten einen Teil zur Umweltbildung beitragen.

9. Flächenversiegelung stoppen, Grünflächen erhalten. Trotz leicht abnehmender Bevölkerung und deren Ballung in wenigen Großstädten, werden in Deutschland täglich 80 Hektar Land bebaut. Damit soll Schluss sein.

10. Degrowth Forschung fördern. Die 2010 eingesetzte Enquetekommission zu Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität der Bundesregierung reicht vielen Antiwachstumsaktivisten nicht aus. Sie wollen, dass sich Forschung und Politik weiterhin mit Wachstumskritik und progressiver Lebensqualitätsmessung beschäftigen.

Sonderlich neu sind die meisten Forderungen freilich nicht, sondern existieren in der Umweltbewegung schon seit Jahrzehnten. Im Unterschied zu den klassischen "grünen Denkschulen", die noch auf die Macht der politischen Veränderung von oben setzten, strebt Degrowth aber eher die Veränderung von unten durch jeden Einzelnen an.

"Mentale Infrastrukturen", angeblich verinnerlichte "Wachstumszwänge", der Verzicht auf "Wohlstandsballast", die Neuentdeckung des "Wertes von Zeit" und einem "guten Leben" sind Stichworte, die häufig bei den Wachstumskritikern fallen.

Aber Tomaten auf dem Balkon zu züchten, Nachbarschaftstreffen und Repaircafés zu organisieren, ist zwar schön und gut, aber ob das die drängenden Probleme der Zeit löst, ist bisher auch nicht bewiesen. Denn was ist mit den Milliarden von Menschen in  Entwicklungsländern, die aus dem Weniger ins Mehr wollen? Die Kommentare aus westlichen Überflussgesellschaften, beim Konsum etwas kürzer zu treten, mögen für viele von ihnen anmaßend klingen.

Und dennoch: Dass es ein einfaches Weiter-wie-bisher nicht geben kann, ist klar. Ob ein Verzicht auf Wachstum oder ein grünes Wachstum die Lösung ist, dagegen noch nicht.

Videotipp: Vergangenes Jahr haben wir den Ökonomen Niko Peach und Ralf Fücks, den Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung, zum Streitgespräch gebeten. Das Thema: Was rettet die Welt – eine grüne Wirtschaft oder weniger Wachstum? Hier geht es zum Video.

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